Peter Nordquist
Gabriel Glikman

 

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Das Leitmotiv seines Werkes ist die Darstellung menschlicher Seele und Charakters, deren Leidenschaften, Freuden, Offenbarungen, Irrungen und Wirrungen. Verbildlichung menschlichen Schicksals ist sein Bestreben. Die wenigen gegenständlichen Kompositionen, stillebenhafte und landschaftliche, mag man als zusätzliches, sein eigentliches Thema vervollständigendes Motiv, empfinden.

"Für mich ist das menschliche Gesicht überaus anziehend", sagt der Maler, "ich werde niemals müde, die Menschen zu beobachten. Mir scheint als gäbe es keine amüsantere Leidenschaft, als den Versuch zu unternehmen, in die tiefsten Tiefen der menschlichen Seele vorzudringen. Ich glaube, daß auf dem Gesicht eines jeden von uns sein Schicksal - das Fatum - geschrieben steht. Es ist sehr schwierig, dieses zu ergründen und bildlich darzustellen, aber wahrscheinlich ist es noch schwieriger, es mit Worten beschreiben zu müssen, denn das Schicksal und die Vorsehung durchdringt die gesamte Erscheinung eines Menschen. Sie drückt sich in den Augen, in den Linien der Wangen, der Wangenknochen, in der Stirne und in der Form der Ohren aus, sie liegt im scheinbaren Chaos der Gemütsbewegungen und sehr oft in der scheinbaren Übereinstimmung des menschlichen Handelns". Gabriel Glikman fügt seiner Konzeption noch hinzu: "Ich wünsche mir, daß auf jedem meiner Portraits nicht nur die äußere Erscheinung und der Charakter eines Menschen, sondern vor allem sein persönliches Schicksal erkennbar ist".

Beim Betrachten seiner rätselvollen Portraits taucht unweigerlich der Begriff des psychologischen Fatalismus auf. Als Psychologe und Metaphysiker zerlegt er in seinen Bildern die zum Menschen gehörende Ganzheit seiner Persönlichkeit, um ihr Schicksal, ihre seelischen Tiefen und ihre letzten menschlichen Geheimnisse zu enträtseln. Auf jedem Gesicht seiner Portraits steht deren Schicksal geschrieben. Diese Gesichter nehmen die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, sie berauschen durch ihre geistige Schönheit und stoßen bisweilen durch ihre Häßlichkeit und Grausamkeit ab.

So kommt dies in dem Portrait des Komponisten Dmitri Schostakowitsch mit seinen gramvoll zusammengepressten Lippen, in seinem verschlossenen Antlitz, dessen Tragik die Welt erst unlängst durch sein Buch kennengelernt hat, voll zum Ausdruck. Oder auch der boshafte Stolz des paradoxen Zynikers, der aus dem Portrait Igor Strawinskijs spricht und des in die energischen und ungestümen Klänge der Musik versunkenen Mstislaw Rostropowitsch.

Eines der eindrucksvollsten Portraits ist das des Ehepaars Sacharow. Zwei Gestalten, die eines Mannes und einer Frau, schweben lautlos in einem unwirklichen, mit Finsternis angefüllten Raum. Das Gesicht des Mannes, durch seine Herzensgüte entwaffnend, ist leicht zu erkennen. Er hält ein kleines Transistorradio in der Hand, das die einzige Verbindung zur Außenwelt ist. Seine geschwollenen Füße voller Wundmale berühren kaum die Erde. Neben ihm steht seine Frau, ihr Gesicht mit streng zusammengezogenen Brauen, in der Hand eine zarte, halbverwelkte Blume. Ihre ganze weibliche Erscheinung drückt Beistand und Schutz aus. Über den Häuptern der Eheleute, "die in der tödlich gefährlichen Verbannung lebendig begraben werden, ihren Kampf jedoch weiterführen", tauchen flackernde Gloriolen auf, vielleicht ist es auch nur der Widerschein des Mondes oder ein im Nebel verschwindender Sonnenstrahl. Die freskenhafte Darstellung dieses Gruppenportraits strahlt Licht und Wärme aus. In diesem Bild scheint sich etwas zu drehen, ohne Hast zu fliegen, in einer zähen, unaufhaltsamen Bewegung. Alles auf diesem kraft- und würdevollen Bild ist klar und konkret, doch symbolisch zugleich. In dieser Ausdruckskraft der Symbole wiederum liegt ein geheimnisvolles Element der Verwirklichung, Sichtbares zu verbinden mit dem Unsichtbaren.

Die Portraits sind von so scharfer Beobachtungsgabe, daß sie ganze Geschichten erzählen und neue Dimensionen eröffnen. Der Künstler portraitiert nicht nur Menschen, die er in seinem langen Leben (er ist 1913 geboren) kennengelernt hat, Menschen mit denen er sich unterhielt, freundschaftlich diskutierte oder sogar stritt, vielmehr fesseln und beeindrucken ihn gerade zufällige Bekanntschaften. Vielen dieser Unbekannten widmete er seine Aufmerksamkeit und hielt in seinen Portraits die unterschiedlichsten Menschen fest, Männer, Frauen, Greise und Kinder, die so zu zeitgeschichtlichen Dokumenten wurden. Der Künstler beobachtet, analysiert, forscht und dringt in den Bereich der Träume und unterdrückten Instinkte ein, er befreit seine Modelle von den qualvollen Fesseln der oberflächlichen Konventionen des Lebens und gibt ihnen in seinen Bildern das höchste Maß an Vergeistigung.

Besonders bedeutsam sind seine Portraits, die versuchen, das Gesicht längst Verstorbener wieder lebendig werden zu lassen, Menschen, die die Geschichte mit ihrer Persönlichkeit geprägt und sichtbare Spuren hinterlassen haben. Er versucht ihre Gedanken zu lesen und ihre Gefühle zu erspüren um sie dann bildlich festzuhalten. Diese Bildnisse könnten als phantastisch bezeichnet werden: sie enthalten ein gewisses Maß an Verklärung. Es ist der Blick eines Zeitgenossen zurück in das Dunkel der Jahrhunderte, in dem ein Hauch von Mythos und Legende weht. Tatsächlich scheint die Legende um einen Menschen für die Nachkommen stärker und wichtiger zu sein als sein reales Leben. Dabei ist zu denken an die Portraits von Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke und Ernest Hemingway. Beispielhaft dafür im Bildnis Einsteins, farbig und aggressiv dargestellt, ist alles bedeutungsvoll: die durchdringenden, traurigen Augen, die zerzausten grauen Haare, die Geige und da eine Hand aus dem Nichts - ein Gipsabguß -, Phantasieblumen haltend.

Das 20. Jahrhundert, von Widersprüchen und Zusammenbrüchen geplagt, steht jetzt "vor dem Problem des moralischen Zerfalls" (A. Solschenizyn). Wahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum sich die bildende Kunst wieder mehr und mehr der Portraitkunst, der Darstellung des Menschen und seiner Seele, zuwendet, einem Zweig der Kunst, der fast so alt wie unsere Kultur und doch immer wieder neu ist. Die bildende Kunst scheint des raffinierten Spiels der Linien, Farben, malerischer Harmonien und Rhythmen überdrüssig zu sein und an deren verfeinerten Vollkommenheit, sodaß sie sich wieder des Ursprünglichen erinnert. Unter den Künstlern, die sich dem Portraitieren verschrieben haben, ist auch Gabriel Glikman, ein Maler aus Russland. Dies ist um so mehr bezeichnend, da die totalitäre Macht im heutigen Russland bei seinen Künstlern ein starkes Bedürfnis, allem zum Trotz, ihre Persönlichkeit und ihre eigene Weltanschauung beizubehalten und für die Freiheit der Kunst zu kämpfen, erzeugt. Die Menschen aus Russland konnten schon immer eine Menge an Erniedrigungen von außen ertragen und die innere Freiheit dabei bewahren. Dieser "Selbstschutz" führt den Künstler unweigerlich dazu, die menschliche Persönlichkeit zu erfassen und sie in seiner Portraitkunst zu verdeutlichen.

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Gabriel Glikman macht sich oft Gedanken über Stil und Handschrift eines Künstlers: "Ich bin jedesmal betrübt, wenn ich mich bei dem Versuch ertappe, meinen eigenen Stil festlegen zu wollen, von jedem leicht erkannt zu werden und meinen eigenen, streng begrenzten und erstarrten Stil zu haben. Was immer ich auch male, ich versuche ständig das Verborgene menschlichen Seins auszudrücken. Ich wünsche mir, daß man mich an meinem inneren Aufbau und meiner Weltanschauung erkenne und nicht an den Proportionen, der Art des Farbauftrages oder der Farbkomposition, die in jedem Bild wieder auftaucht. Bevorzugt man diesen handwerklichen Kunstgriff, so ist die Identifikation leicht zu erzielen. Doch als Künstler möchte ich nicht gerne hören: ,Das ist doch Glikman, ganz klar, das ist Glikman!` Viel lieber wäre es mir, daß man erstaunt fragt: ,Ist das etwa auch Glikman? Sehr interessant!` Künstler, die sich streng an einen festgelegten Stil halten, erinnern mich an Sklaven, die an einen Karren gekettet sind. Ich glaube, daß der geniale Modigliani, wenn er nicht ein solch kurzes Leben gehabt hätte, in seinem Stil nicht so klar erkennbar geblieben wäre. Das Wichtigste ist die Freiheit. Der Stil eines Künstlers ist genauso unbeständig wie die Natur, die ihn umgibt. Ewig verändern sich Himmel und Erde, wie die menschliche Seele immer unbeständig sein wird. Gott bewahre mich davor, einem Dirigenten ähnlich zu sein, der seine Symphonien vor dem Spiegel einübt".

zum Vergleich mit Nina Schneider zum Vergleich mit Taissa Iwanowa-Glikman

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Der Zyklus "Newskij Prospekt" verdient wegen seiner zahlreichen Frauenbildnisse besondere Beachtung. Der Newskij Prospekt - das ist die schönste und vornehmste Hauptstraße von Petersburg/Leningrad - ist gesäumt von den herrlichsten Bauwerken. Er durchquert die ganze Altstadt und endet an der Newa. Die von Puschkin, Lermontow, Gogol und Dostojewskij vielfach beschriebene Straße ist zu jeder Tages- und Nachtzeit voller Menschen, ähnlich dem Picadilly Circus in London, dem Broadway in New York oder den Boulevards in Paris, das Herz und die Seele einer Stadt. Der "Newskij Prospekt" von Glikman ist die Beschreibung von Frauengesichtern, die sein scharfer Blick aus der Menge herausgegriffen hat. Es sind junge, alte, schöne und häßliche, geheimnisvolle, leere und spöttische Frauen, die in der Dämmerung, im Sonnenschein oder bei Regen und Schnee den Newskij Prospekt entlanggehen. Diese zufällig Vorübergehenden oder bisweilen auch Zufallsbekanntschaften, deren Gesichter er mutig auf die Leinwand "hinwarf", ziehen jetzt stumm vor unseren Augen vorbei, entblößen das erbarmungslose Gesicht dieser Zeit und dieses Volkes, und verblüffen durch ihre Naivität und Innerlichkeit.

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Glikman, ein Künstler des 20. Jahrhunderts, ist tief verwurzelt in den europäischen künstlerischen Traditionen. Unweigerlich sucht man in seinen Werken nach Verbindungen und Einflüssen. Sie zu finden ist nicht einfach. Ist es der Surrealismus, der Existentialismus oder die Avantgarde? Er bekennt sich zu keiner von diesen oder auch anderen Kunstrichtungen, aber er lehnt sie auch keineswegs ab. Er versucht sich, des seiner Meinung nach Wichtigen und Bedeutenden im Kunstschaffen zu bemächtigen und aufzunehmen. Dennoch sucht er als ein wahrhaft schöpferischer Künstler seine eigenen künstlerischen Gesetze.

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Januar 1981

 

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