Prof. Dr. Hanns Theodor Flemming
Gabriel Glikman

 

Sicher ist es ein ungewöhnliches bildnerisches Ereignis, einem der letzten lebenden Augenzeugen aus dem legendären Witebsk der frühen zwanziger Jahre zu begegnen, dessen Kindheits- und Jugenderinnerungen durch das persönliche Erlebnis von Chagall und seinen Weggefährten geprägt wurden und dessen eigenes Schaffen die expressionistische Tradition der berühmten Witebsker Schule bis in unsere Tage auf verwandelter Ebene fortführt. ...

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Gabriel Glikman fühlt sich als ein ausgesprochen russischer Künstler. Mehr als vier Jahrzehnte hat er erfolgreich in Rußland gearbeitet, ehe er 1980 -schon zuvor als "ideologischer Subversit" verketzert - nach fast zehnjähriger Wartezeit in den Westen ausreisen durfte, wo er zunächst in Wien lebte und dann in München eine neue Heimat fand, in der er seitdem lebt und arbeitet. Ausstellungen in Deutschland, England, Frankreich, Holland und Amerika machten sein Schaffen inzwischen auch im Westen bekannt.

In Rußland hatte sich Glikman bereits seit langem als Bildhauer, Maler und Schriftsteller einen Namen gemacht, seine Skulpturen "unsterblicher Russen" wie Puschkin, Tschaikowskij und Schostakowitsch befinden sich in Museen und auf öffentlichen Plätzen in Leningrad und Moskau. Daneben schuf Glikman auch zeitkritische Werke wie das Gemälde "Krieg", auf dem die Vernichtung seiner Vaterstadt Witebsk und dessen jüdischer Bevölkerung, in der Darstellung verschiedener Schluchten und in Flammen aufgehender Häuser, apokalyptisch geschildert wird.

Doch bald geriet Glikman in Konflikt mit den engstirnigen Kulturfunktionären des Sowjet-Kommunismus, und eine damals sensationelle Gemäldeausstellung im Leningrader "Haus der Komponisten" wurde 1968 schon nach drei Tagen verboten, weil sie systemkritische Werke enthielt, wie zum Beispiel das Bildnis eines Kommissars der Roten Armee mit Trotzki-Profil und blutbesudeltem Kneifer sowie das Portrait des heimgekehrten Komponisten Prokofjew, dem eine Schlinge um den Hals liegt. Damals begann der Maler, seine Ausreise aus der Sowjetunion zu planen.

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In stilistischer Hinsicht ist Glikman dem Expressionismus verpflichtet, dem er eine eigene symbolhaltige Note abgewinnt. Dabei dient ihm die Deformation zur Steigerung des Ausdrucks. Immer wieder malt er bedeutende zeitgenössische Musiker Rußlands, denen er sich auch persönlich verbunden fühlt, mit ihren charakteristischen Attributen in expressiver Gestik: den Cellisten Mstislaw Rostropowitsch mit Violoncello oder mit Taktstock als Dirigent, den Pianisten Swjatoslaw Richter in kantig-ekstasischer Haltung oder auch den Komponisten Dimitrij Schostakowitsch in Form einer surrealen Metapher für sein kreatives Schaffen.

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Alle diese Darstellungen veranschaulichen eine beträchtliche Spannweite stilistischer Ausdrucksmöglichkeiten. Glikman will sich nach eigener Aussage in seiner malerischen Handschrift nicht festlegen lassen, sondern sich vielmehr stets die Freiheit zu immer wieder neuen Gestaltungsformen bewahren. Dennoch verbindet alle seine Werke im Hinblick auf ihre Komposition und Koloristik eine ausgeprägte Neigung zum Expressionistischen, die aus den vielschichtigen Traditionen herrührt, in denen der Maler wurzelt.

17. Oktober 1991

 

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