Gabriel Glikman

Aufzeichnungen eines russischen Malers

Ich erinnere mich gut an das Witebsk der zwanziger Jahre, an die engen, zumeist ungepflasterten Straßen . . . Die sanft abfallende Gogol-Straße, die durch Betonsäulen mit eisernen Querbalken gegen die Duchovskij-Schlucht abgegrenzt war. Die Duchovskij-Schlucht selbst, mit ihrem schönen schokoladenfarbenen Lehm, aus dem wir Jungen mit solcher Begeisterung alle möglichen Figuren formten. Ich erinnere mich an den Gouverneursgarten mit dem hohen Obelisken, daneben die Bahnhofstraße und die Keller der Tscheka, wo man nachts Dutzende, Hunderte von Menschen erschoß und wo wir tags hinter Gittern die grauen Gesichter der Eingesperrten sahen, die versuchten, Notizzettel auf die Straße zu werfen. Auf dem Rückweg von diesem schrecklichen Ort, zu dem wir heimlich liefen, gingen wir an dem Kino "Spartakus" vorbei und betrachteten seine braunen Wandmalereien, die Arbeiter und Bauern darstellten. Wir barfüßigen Jungen streiften gern auf dem jüdischen Friedhof umher, der zugewachsen und voller Geheimnisse war, auf dem, wie wir hörten, nachts kleine Feuer umherirrten - die Seelen der Verstorbenen.

Aber Gegenstand all unserer Träume war das Kunstinstitut mit antiken Gipsen, anatomischen Abdrücken und so unvergeßlichen, hervorragenden Menschen, die man Maler nannte und die sich so sehr von der übrigen Bevölkerung von Witebsk unterschieden . . .

Der Sommer dauerte in dieser Gegend lange, es war warm. Die Maler kleideten sich sehr eigenwillig und ungekünstelt. Über ihre braungebrannten, nicht immer sauberen Füße hatten sie moderne Sandalen gezogen - eine eigenartige Konstruktion von Holzsohle und Riemen. Sie trugen Tolstoj-Hemden, die aus ungebleichter Bauernleinwand genäht waren. Die Maler, diese fröhlichen, lärmenden, ewig mit Farbe beschmierten und lauten Männer, waren Gegenstand unserer ständigen Begeisterung.

Ich erinnere mich an Chagalls Lehrer, den Maler Pen. Er sah am besten von allen aus - ein grauhaariger Mann mit einem unverwüstlichen grünen Velourhut und einer eisernen Brille. Ich beobachtete oft den langhaarigen, erhaben-ruhigen Malevitsch mit seinem quadratischen Kopf - den ewigen Gegner und Antipoden Chagalls. Und schließlich, vor allem Chagall selbst, den ich damals mit meinen Kinderaugen als einen schwarzen, zerzausten, wilden Mann sah. Chagall malte und zeichnete gern im Umkreis der Kinderschar, wobei er uns von Zeit zu Zeit pfiffig ansah und dabei redete und scherzte. Immer sahen wir mit Interesse zu, wie die Maler das nach Terpentin riechende Sackleinen auf Rahmen zogen, die Farben durch den Fleischwolf drehten und sie dann mit einer Lösung von hellem, scharf riechenden Olivenöl mischten.

Man malte damals, wie man wollte und was man wollte - viel, leuchtend und frei! Uns Jungen, die wir auch an diesem ungestümen Schaffen teilnahmen, schien es, daß alle auf die gleiche Weise malten. Wir erkannten fliegende Juden in Gebetsmänteln, Schneider, Schuhmacher, Brautpaare . . . All diese grünen, gelben Figuren in einem blendenden Himmelsblau, im freien und schwelgerischen Element der Malerei. Aber die Zeit wählte nur Chagall aus. Die übrigen hinterließen, als sie aus dem Leben gingen, nur eine bedeutungslose Spur in der Kunst oder versanken ganz in Vergessenheit...

 

 

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